Der Genealogische Abend 

Naturwissenschaftlicher und Historischer Verein für das Land Lippe e.V.

Dr. Wolfgang Bender

Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Detmold

Fürstin Pauline und die Gründung der „Irrenanstalt“ zu Brake.

November 2003

Die Fundierung der Heil- und Pflegeanstalt Lindenhaus - den Zusatz „Lindenhaus“ erhielt die progressive Einrichtung erst im Jahre 1890 – ist in engem Zusammenhang mit der von der Fürstin zuvor eingeleiteten grundlegenden Reform und Neuordnung des Detmolder und lippischen Armen- und Gesundheitswesens in den Jahren 1801/02 zu betrachten.

Zwei wichtige Gründungsimpulse kommen dabei in erster Linie in Betracht, die die sozial engagierte, hoch gebildete und tatkräftige Fürstin in ihrem segensreichen Entschluss der Errichtung einer Irrenanstalt bestärkten – allen inneren und äußeren Widerständen und Widrigkeiten zum Trotz. Das traurige Los der lippischen Geisteskranken um 1800 sowie der zerrüttete Geisteszustand ihres im Jahre 1802 verstorbenen Gatten Leopold I.

Die ansonsten so fortschrittliche und wegweisende lippische Medizinalordnung von 1789 erwähnt die Geisteskranken und ihre Behandlung auf 150 Seiten mit keiner Silbe! [1] Und noch zu Beginn der Vormundschaftsregierung Paulines waren die lippischen Geisteskranken, sofern sie nicht in Privatwohnungen lebten, im Detmolder Zuchthaus – in dem vornehmlich Kleinkriminelle, Vagabunden, Bettler und andere randständige Existenzen gefangen gesetzt waren – untergebracht! Ein für damalige Verhältnisse in Deutschland allerdings durchaus üblicher Zustand, den Pauline zutiefst bedauerte, da sie die sogenannten Irren als zu heilende und pflegende Kranke und nicht als wegzusperrende, bedrohliche Personen empfand. [2] Daher wurden die Geisteskranken auf ihre Order hin zunächst und vorläufig in das neu eingerichtete Strafwerkhaus - einem Mittelding zwischen Zuchthaus und öffentlicher Arbeitsanstalt – neben dem Detmolder Zuchthaus in der Bruchstraße gelegen - überführt. Vor allem das Strafwerkhaus, aber auch das Krankenhaus der neu errichteten Pflegeanstalt im Schwalenberger Hof in der Schülerstraße mussten noch ein Jahrzehnt bis zur Errichtung der Irrenanstalt in Brake als provisorische Unterkünfte für lippische Geisteskranke dienen. [3]

Schon bald nach seinem Regierungsantritt brach im Spätsommer des Jahres 1790 bei Fürst Leopold eine Geisteskrankheit aus, die nach damaliger medizinischer Begrifflichkeit als „Manie“ bezeichnet wurde. [4] Darunter verstand man einen Zustand, in der Phasen übermäßiger Geschäftigkeit, Hektik und Aggressivität mit Zeiten völliger Apathie wechselten. So verfolgte er seine Dienerschaft mit blankem Säbel durch das Detmolder Schloss, unternahm rasende Ritte durch die Residenzstadt, schoss auf Mensch und Vieh und erteilte zunehmend unsinnigere Befehle. Der Fürst war ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage, über seine Untertanen mit Verstand zu herrschen. Der geistig umnachtete Regent musste daher vom Reichskammergericht unter vormundschaftliche Kuratel gestellt werden, die erst nach der überraschenden Besserung seines Geisteszustandes in den Jahren 1794/95 schrittweise suspendiert werden konnte. Die Genesung war jedoch nur von relativ kurzer Dauer. Im März des Jahres 1802 verfiel er erneut dem Wahnsinn und starb am 4. April 1802 in geistiger Umnachtung. Seine psychische Instabilität scheint er an seine leiblichen Erben tradiert zu haben. Der erste Sohn, Leopold II., für den die Mutter 1802 die vormundschaftliche Regentschaft übernahm, war zeit seines Lebens ein eher unterdurchschnittlicher Herrscher und Sonderling. Dessen Bruder Friedrich wurde drei Jahre vor seinem Tode (1854) geisteskrank. Und auch der letzte Nachkomme des Hauses Lippe-Detmold und Enkel Paulines, Fürst Karl Alexander, der in Folge einer Geisteskrankheit nicht regierungsfähig war, starb 1905 in einem Sanatorium.

[Hier Hinweis Parallele zum dörflichen Umfeld mit seinen engen Heiratskreisen; wie in Hohen Adelkreisen Gefahr der „Inzucht“]

Neben den angeführten beiden Hauptmotiven Paulines sind auch die zahlreichen Reisen, auf denen die Herrscherin stets ein lebhaftes Interesse für soziale Einrichtungen zeigte, sicherlich als weiterer Beweggrund für die Errichtung und Ausgestaltung einer „modernen“ Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke zu nennen. [5] So führte einer ihrer Reisen die aufgeklärte und belesene Regentin beispielsweise im Jahre 1807 nach Paris mit seiner für damalige Verhältnisse fortschrittlichen und humanitären „Irrenpflege“. [6]

Bereits spätestens im Jahre 1801 reifte bei Pauline der Entschluss, ein „Landirrenhaus“ zu errichten. [7] Konzeptionelle Anregungen fand die aufgeklärte Monarchin auch in einem Aufsatz aus „Hartlebens Justiz- und Polizeifama“ vom Oktober 1802 über die neu errichtete brandenburgische „Landirrenanstalt“ zu Neuruppin, den einer ihrer Berater und engsten Vertrauten, der Schiederaner Amtmann August Wippermann, Pauline hatte abschriftlich zukommen lassen. [8] In einem Aufruf, der 500 mal gedruckt und an die Pfarrer und Beamten im Lande zur Verkündigung versandt wurde, wandte sich Pauline am 30. Oktober 1803 an ihre „lieben Lipper“ und lud die Untertanen in ihrer Eigenschaft als ihre „Mutter“ und „Fürstin“ ein, durch Spenden die Errichtung einer „Irrenanstalt“, die ausdrücklich als „Verwahrungs- und Genesungshaus“ konzipiert war, zu befördern. [9] Wenig später beauftragte sie ihren Medizinalreferenten, Medizinal- und Hofrat Dr. Johann Friedrich Christian Scherf (1750-1817), den medizinischen „spiritus rector“ des nachmaligen Lindenhauses, ein Gutachten zur Errichtung einer „Irrenanstalt“ aus medizinischer Sicht zu erstellen. [10] Dieser begann seinen ausführlichen Bericht, der den Medizinalrat als profunden Kenner des zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs ausweist, mit der treffenden, für die Zeit modernen programmatischen Feststellung: „Wenn der Hauptzweck eines Irrenhauses die Heilung der Geisteszerrütteten seyn soll, so ist es, ärztlich betrachtet, allerdings ein Hauptbedingniß bey der Errichtung desselben, daß es von dem abgesondert sey, worin die unheilbar Verrückten zur Sicherheit für sich und andere bewahrt werden.“ [11]

Als Standort war bereits die alte baufällige Horner Burg in Erwägung gezogen worden, die zu jener Zeit als Kornboden und Amtsgefängnis diente. Diese hätte allerdings durch umfangreiche Umbaumaßnahmen und Ankauf eines benachbarten großen Gartengeländes für die Bedürfnisse einer zeitgenössisch-modernen „Irrenanstalt“ erst aufwendig hergerichtet werden müssen. Die vorliegenden Gutachten, Baupläne und Kostenanschläge, die der Kammerrat Johann Friedrich Gerke erstellt hatte, [12] wurden nicht realisiert. Die Horner Lösung wurde von Pauline und der Regierung aus finanziellen und räumlichen Gründen im Frühjahr des Jahres 1804 fallen gelassen, zumal man zwischenzeitlich eine bessere Unterbringungsmöglichkeit für die lippischen Geisteskranken gefunden hatte. [13]

Das leer stehende Braker Schloss und das benachbarte, schon in der Renaissance und im Barock angelegte große Gartengelände mit seinen Gebäulichkeiten und einem Teil der umgebenden Ländereien wurden für die Errichtung einer Irrenanstalt ins Auge gefasst. In den Zier-, Obst- und Gemüsegärten sollten die Kranken körperlich Arbeiten, Spielen, Spazieren und Zerstreuung finden. Im Jahre 1804 hatten sich nämlich Pläne endgültig zerschlagen, auf dem dortigen Gartengelände des Schlosses, dem nachmaligen Lindenhausterrain, eine Zichorienfabrik oder eine Wollmanufaktur einzurichten. [14] Das Schloss und das Gartengelände waren nach dem Tod der Äbtissin des Damenstiftes St. Marien zu Lemgo (1793-1804), Charlotte Clementine zur Lippe, die dort residiert hatte, im Mai des Jahres 1804 an das Fürstenhaus zurück gefallen.

Pauline selbst entwarf im November 1804 einen gedanklichen Plan, wie die Anstalt in Teilen des Schlosses Brake einzurichten sei. [15] Nach Lektüre eines Aufsatzes über den Nutzen einer „Irrenanstalt“ inmitten eines geräumigen Gartengeländes und auf Anraten Scherfs, entschloss sie sich jedoch im Laufe des Frühjahrs 1805, das Gärtnerhaus und die Orangerie für die Zwecke der Unterbringung der Geisteskranken durch Um- und Ausbau (u.a. Erhöhung des Ersteren um ein Stockwerk) einzurichten. [16] Scherf hatte der Fürstin zuvor im April jenes Jahres in einem „Unterthänigen Promemoria“ berichtet: „Ich bin sehr überzeugt, daß die Anlegung der Irrenanstalt nach diesem neueren, freylich aber auch kostbareren Plan sehr wichtige und viele Vorzüge vor der Errichtung derselben im Schloß selbst haben wird. Ich glaube, sie kann einem ganz neu erbauten Irrenhauß sehr nahe gebracht werden und wird der Lage der Umstände nach selbst Vorzüge vor diesem haben, weil ich keinen Ort weiß, wo ein solches neues Hauß mit so zweckmäßigen Umgebungen versehen werden könnte.“ [17]

Überhaupt ist festzustellen, dass sich die aufgeklärte Regentin durchaus von rationalen Argumenten ihrer Berater überzeugen ließ und sich selbst von den ersten Überlegungen zur Errichtung einer „Landirrenanstalt“ bis hin zur Personalgewinnung, Ausgestaltung der Räumlichkeiten, Brennholzversorgung oder Patientenaufnahmen aktiv in den Realisierungsprozess einbrachte, wie u.a. auch den zahlreichen Randvermerken und Schriftstücken von Paulines Hand in den Regierungs- und Lindenhaus-Patientenakten zu entnehmen ist. Kurzum, die Etablierung der Geisteskrankenanstalt war für die philantropische Regentin Chef- und Herzenssache zugleich, und sie scheute sich auch nicht, Detailfragen zu klären. So verfügte die Fürstin beispielweise bezüglich der beabsichtigten Aufnahme der Bauerstochter Pothast aus Talle im Jahre 1819, dass das Amt Varenholz zu berichten habe: „ ... ob die Tochter des Colon Pothast in ihrem Wahnsinn andern oder sich selbst gefährlich sey, bereits ärztliche Hülfe und welche gebraucht habe, da nach der Bittschrift des Vaters sie bloß blödsinnig und keines weges zum Irrenhaus qualificiert scheint.“ [18] Weil das Baden „ ... nicht nur zur Reinlichkeit, sondern auch zur Heilung der Kranken notwendig...“ sei, ordnete Serenissima die Erstellung großer Baderäume im Wirtschaftsgebäude auf dem Anstaltsgelände an. [19]

Die finanzielle Realisierung ihres zukunftweisenden Projektes gestaltete sich anfangs schwierig. Der Landtag, der den Plänen Paulines hinsichtlich einer „Landirrenanstalt“ von Anfang an kritisch ablehnend gegenüberstand, verweigerte im Herbst 1805 freundlich, aber bestimmt Pauline jegliche finanzielle Unterstützung für die Errichtung und Unterhaltung einer „Irrenanstalt“. Die Regierungsvorlage, ein Viertel der Verbrauchssteuer auf Wein- und Branntwein für die Errichtung eines „Irrenhauses“ zu bewilligen, lehnten die beiden Körperschaften (Adel, Städte) unter Hinweis auf die kriegerischen Zeiten und die Kleinheit der lippischen Verhältnisse rundweg ab. Die bisher eingegangenen Gelder sollten nach Ansicht des Landtages günstig angelegt, und die Erträge zur Unterbringung der bedürftigsten „Wahnsinnigen“ in Privathäusern verwendet werden. Die Fürstin reagierte erzürnt und berief den Landtag bis zum Ende ihrer Regentschaft (1820) nicht mehr ein! [20] Den Ständen entgegnete sie zornig und kämpferisch: „Die Erklärung der Stände über die Irrenanstalt ist uns eben so misfällig als unerwartet gewesen ... aber die Anstalt wird darum nicht minder Statt haben und der wird sie seegnen, der sich des Kranken und leidenden Nächsten anzunehmen gebot, ....“ [21]

Neben ihren gestifteten Immobilien und den dotierten Einrichtungsgegenständen aus dem Schloss als materielle Starthilfe gründete die Regentin einen „Irrenhausfonds“, in den vor allem die enorme Summe von über 3.600 Reichstalern aus dem obengenannten Spendenaufruf, [22] Domanialeinkünfte, sowie 5.000 Rt aus einer sogenannten Tontine einflossen, um den laufenden Betrieb zu finanzieren. [23] Ab 1810 kamen noch neue Steuereinkünfte aus Lippstadt, das hälftig zum Fürstentum Lippe gehörte, hinzu. [24] Im Jahre 1820 beispielsweise erhielt der Fonds annähernd 8.000 Rt aus dieser reich sprudelnden Finanzquelle. [25] Durch die Erträge des Fonds - und hier vor allem aus den Lippstädter Steuereinnahmen - konnte die unentgeltliche Verpflegung und Unterbringung der armen und weniger bemittelten lippischen Geisteskranken innerhalb und außerhalb der Anstalt bis zum Jahre 1847 gewährleistet werden! [26]

In Folge der kriegerischen Ereignisse seit den Jahren 1805ff., in die auch Lippe direkt und indirekt verwickelt war, standen die noch nicht ganz umgebauten und vollendeten Gebäulichkeiten der künftigen Anstalt einige Jahre lang leer. Um Diebstähle zu vermeiden, musste ein Wächter eingestellt werden. Die Ländereien wurden verpachtet und die daraus resultierenden Einnahmen flossen dem Anstaltsfonds zu. Im Frühjahr des Jahres 1811 wurden die Abschlussarbeiten aufgenommen. [27] Endlich war es soweit. Am 23. September 1811 fanden die ersten Patienten in Brake Aufnahme. Es waren dies nach Ausweis des Patientenbuches der Asemisser Bauer Heinrich Pauk, 26 Jahre alt, und die 28jährige Bäuerin Sophie Müller aus Berlebeck. Bis zum Jahresende kamen zwei weibliche und vier männliche Kranke hinzu, darunter auch der „Ausländer“ Johann Henrich Hardemann, ein fünfzehnjähriger in Herford lebender Gymnasiast, der bis zu seinem Tode im Jahre 1835 Lindenhauspatient blieb. [28] Bei ihnen allen handelte es sich wohl um solche „Gemühtskranke“ die gemäß § 1 der Aufnahmestatuten „...sich immer oder doch oft in einem Zustande befinden, in welchem sie durch Anfälle von Narrheit, Tollheit oder Schwermuht sich oder ihren Nebenmenschen gefährlich werden können“ und die nicht an Epilepsie oder an ansteckenden Krankheiten litten (§ 3). [29]

Die Zahl der Patienten wuchs langsam, aber stetig. Eine räumliche Trennung von heil- und unheilbaren Kranken fand zunächst nicht statt. Alle Kranken wurden im Hauptgebäude, dem aufgestockten ehemaligen Gärtnerhaus, getrennt nach Geschlechtern in einem Männer- und Frauenflügel aufgenommen. Wurde eine/r von ihnen vorübergehend „rasend“, fand er oder sie temporär Aufnahme in der ehemaligen Orangerie, in der sechs „Tollklausen“ als Isolierräume für unruhige Kranke eingerichtet wurden. Pauline bemerkte nicht ohne Stolz in einem Brief aus dem Jahre 1815 an die Zürcher Hilfsgesellschaft über die inneren Verhältnisse in ihrer Gründung: „... die Anstalt hat Fortdauer und gewinnt an Ausdehnung. Wir lassen eben noch neue heizbare Zimmer einrichten. Das Resultat der Jahrberechnung von 1814 ward vorgestern vorgelegt; die Anstalt kostet alles in allem dem Staate 2500 Thlr. – Drei von 17 bezahlten, drei wurden in dem Jahre ganz geheilt entlassen, der Zustand der meisten bessert sich und die Tollklause durfte nur ein paar Tage angewendet werden. Die Irren waren gut genährt, sorgsam gewartet, verliessen ungern die Anstalt. Einländische und ausländische loben Ordnung und Reinlichkeit sehr.“ [30]

Nach einigen Jahren wurde die Anstalt zu klein. Der ärztliche Leiter Dr. Focke (s.u.) berichtete an die Regierung im Dezember 1817 und mahnte pragmatisch und programmatisch zugleich, an den Gründungszweck der Anstalt erinnernd, dass die unheilbar „Wahnsinnigen“ von den heilbaren „Gemüthskranken“ getrennt werden müssten, auch um den Heilerfolg der Letzteren nicht zu gefährden. Nach seiner Ansicht sollten die „Wahnsinnigen“, um Raum zu schaffen, im Schloss untergebracht werden. [31] Fockes Anregung bezüglich der Trennung der beiden Patientengruppen wurde aufgegriffen, und in den Jahren 1818ff. wurde die ehemalige Orangerie auf Vorschlag des Kammerrates Gerke um eine Etage aufgestockt. [32] Die Kosten beliefen sich auf knapp 1.100 Rt, die aus dem „Irrenhausfonds“ bestritten wurden. [33] Es gab nunmehr zwei getrennte Gebäude für die Heil- und die Unheilbaren. Eine Heil- und eine Pflegeanstalt, so wie es Scherf bereits 1804 programmatisch formuliert hatte (s.o.). Zu Beginn des Jahres 1820 – dem letzten Regierungsjahr der Fürstin - beherbergte die Anstalt bereits 25 Patienten (14 Männer und elf Frauen, darunter drei männliche „Ausländer“). Im Laufe jenes Jahres kamen sieben Patienten und Patientinnen hinzu, ein Mann konnte geheilt entlassen werden und zwei Männer verstarben im Lindenhaus. In den zehn Jahren von 1811 bis 1820 wurden insgesamt 231 Patienten im Lindenhaus versorgt. Das Geschlechterverhältnis betrug rund 2:1 zu Gunsten der männlichen Kranken. Nur 29 Personen konnten in jenem Jahrzehnt geheilt entlassen werden, während zehn in dieser Zeit in der Anstalt verstarben. [34]

Die medizinische Betreuung der Patienten bis zum Jahre 1844 übernahm der Medizinalrat Dr. Johann Ludolph Albert Focke (1761-1849). Er wohnte weiterhin in Lemgo und nicht auf dem Anstaltsgelände und praktizierte hauptberuflich als Arzt in der Hansestadt sowie deren Umgebung. Focke war zudem bereits seit 1793/94 Landeshebammenlehrer und seit 1797 Amtsarzt (Physikus) im Lemgoer Amtsarztbezirk (Physikat). Alle drei genannten Tätigkeiten übte der Medizinalrat im Nebenamte aus! Für seine Tätigkeit im Lindenhaus erhielt er zunächst ein Jahresgehalt von 100 Rt., das 1821 verdoppelt wurde. Erst sein Nachfolger, Dr. Eduard Meyer aus Lemgo, übernahm im Jahre 1846 neben den ärztlichen Aufgaben, die er seit 1844 inne hatte, auch die Funktion eines Direktors in Personalunion und siedelt auf das Anstaltsgelände über. [35] Focke stand der Braker Amtschirurg Friedrich Adolph Pramann (1776-1852) als Wundarzt bis zu seinem Tode für ein Jahresgehalt von anfangs 50 Rt ebenfalls nebenamtlich zur Seite. [36] Verwaltungsleiter und Ökonom der Einrichtung war von der Anstaltsgründung bis zu seinem Lebensende im Februar des Jahres 1841 der Inspektor Heinrich Adolph Grupe, ein ehemaliger Premierleutnant, der während des Spanienfeldzuges des lippischen Bataillons im katalanischen Girona 1810 das Lazarett verwaltet hatte. Grupe wohnte zunächst mit seiner Familie in Räumen des benachbarten Schlosses und zog 1820 in das Haus der unheilbaren „Irren“ für einige Jahre um. Dann wurde ihm ein eigenes Haus auf dem Anstaltsgelände errichtet. Neben seiner Jahrespension in Höhe von 252 Rt, der freien Unterkunft und der kostenlosen Nutzung von Weide- und Gartenland bei der Anstalt erhielt er ein anfängliches Jahresgehalt von 120 Rt. [37]

Die Personalgewinnung für männliches und weibliches Wach-, Haus- und Pflegepersonal, ja selbst für ärztliche Fachkräfte gestaltete sich nicht schwierig. Zum Einen gingen bereits lange vor Eröffnung der Anstalt eine Vielzahl von Bewerbungen ein, zum Anderen wurde Grupe von der Vormundschaftlichen Regierung beauftragt, zu erkunden, ob „...unter denen als Invaliden aus Spanien zurückgekehrten Militair sich einige dazu paßliche Subjecte befinden, ...“, denn die „...Irrenanstalt bedarf eines Hausknechts, der zugleich mit phisischen Kräften, Muth und Entschlossenheit, Treue und Ordnung verbindet, weil er der Wärter der Tobsüchtigen zu seyn gleichfalls bestimmt ist.“ [38] Schnell wurde man hinsichtlich des Personals fündig. Im September und Oktober des Jahres 1811 wurden eine Oberwärterin/Vorsteherin, ein „Irrenwärter“, eine „Irrenwärterin“, eine Magd und ein Hausknecht, die beide zugleich Wärter/in der Tobsüchtigen waren, eingestellt. Sie alle fanden bei freier Kost Unterkunft in den beiden Anstaltsgebäulichkeiten. Ihre Jahresgehälter beliefen sich zunächst auf bescheidene 70-20 Rt für eine ebenso aufopferungs- wie verantwortungsvolle und manchmal durchaus gefährliche Tätigkeit. [39]

Die Irrenanstalt zu Brake ist in ihrer bewussten Abkehr vom Typus der reinen Verwahranstalt für Geisteskranke im Toll- oder gar im Zuchthaus als eine der frühesten Anstalten ihrer Art auf deutschem Boden anzusehen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf ihren Doppelcharakter als Heil- und Pflegeanstalt, der spätestens ab 1819 durch die räumliche Trennung der heil- von den unheilbar Kranken sinnfällig zum Ausdruck kommt. Und auch später kam es im Lindenhaus immer wieder zu Entwicklungen, die den progressiven Reformprozessen in der Psychiatriegeschichte zuzurechnen sind. Harter Zwang und rohe Gewalt waren zumindest zu Paulines Zeiten offiziell Fremdworte bei der Behandlung der lippischen Geisteskranken in der Braker Irrenanstalt. In der Frühphase gab es zwar lederne Gesichtsmasken, „lockere Handschellen“ „Zwangswesten“ und „Zwangssessel“ für „rasende Irre“ und auch die Tollklausen dienten der temporären Unterbringung dieser Patientengruppe, doch eiserne Ketten waren in Brake ebenso wie harte körperliche Strafen nach Ausweis der normativen Quellen, den Intentionen der Gründerin und ihrer Mitstreiter sowie den Patientenakten tabu. [40] Die genannten Zwangsmittel dienten lediglich der Bändigung und Beruhigung der Tobsüchtigen und dem Schutz ihrer eigenen Person sowie dem ihrer Wärter und Mitpatienten. Ohne Zweifel ist daher das bis 1951 existierende Lindenhaus, das zu Beginn der 1930er Jahre über 500 geisteskranke und pflegebedürftige Menschen beherbergte, einer der segens- und erfolgreichsten sozialen Einrichtungen gewesen, die Pauline initiiert hatte. Ihr Biograph Kiewning formulierte 1930 treffend: „Das Werk wurde eine glänzende Rechtfertigung vor den Ständen.“ [41] Und zurecht wurde der aufgeklärten Monarchin zu Ehren eine Gedenktafel mit ihrem Bildnis auf dem Lindenhausgelände anlässlich der Wiederkehr des 100. Gründungstages ihrer Anstalt errichtet und vom Fürstenpaar persönlich im Jahre 1911 eingeweiht.

Weitere Aphorismen zur Geschichte des Lindenhauses sowie zur Quellengattung der Patientenakten

Anstieg der Patientenzahlen vor dem 1. Weltkrieg bedingt durch Verträge die Lippe mit anderen Ländern abgeschlossen hatte.

In der NS-Zeit keine Euthanasie, Dank Dr. Georg Müller dem Anstaltsleiter, aber Zwangssterilisationen und Hungersterben bei Kriegsende.

1951 Schließung des Lindenhauses aus politischen, finanziellen und baulichen Gründen.

Die meisten Patienten und mit Ihnen auch die Altregistratur (Patientenakten) kamen in die Westf. Klinik Gütersloh.

1993–2002 Bergung, Konservierung und tiefe Verzeichung von über 6000, teils mehrbändiger Patientenakten. Diese befinden sich im Bestand D 107 D im Staatsarchiv Detmold.

Hochinteressante Quelle für Genealogen, da ausführliche Krankengeschichten, Beschreibung der Personen und ihres sozialen Umfeldes.

Im Lindenhaus verstorbene Patienten wurden, sofern sie dort begraben wurden, auch in den Braker Kirchenbücher später im dortigen Standesamt registriert und nicht in ihrer Herkunftsgemeinde.


[1] Landes-Verordnungen der Grafschaft Lippe, 3. Band, Lemgo 1789, S. 337-486.

[2] Hierzu und im Folgenden Arndt 1992, S. 353f.; Kiewning 1930, S. 153; Meyer 1901, S. 23.

[3] Vgl. dazu auch Patientenakte der Christine Nagel aus Horn bzw. Holzhausen. Die 40 jährige ledige „gemüthskranke“ Magd sollte 1806 ins Detmolder Strafwerkhaus eingeliefert werden. Aus der Akte wird ersichtlich, dass sie früher 12 Jahre wegen ihrer Krankheit im Detmolder Zuchthaus leben musste. NWStADetmold L 107 D Patientenakte Nagel (Nr. 3778).

[4] Hierzu und im Folgenden Arndt 1992, S. 164ff.; Kittel 1978, S. 185ff.; Kiewning 1930, S. 50ff., S. 106ff.

[5] Niebuhr 1994, S. 59.

[6] Allerdings beinhaltete Paulines umfangreiche Handbibliothek jedoch keinen Titel der bekannten Klassiker der zeitgenössischen „Irrenheilkunde“ wie Reil, Pinel, Schelling oder Esquirol und selbst einen Kant, der sich in seinen Schriften häufig mit der Problematik auseinander setzte, vermisst man in der Bibliothek der aufgeklärten Fürstin. Vgl. Kraemer 1969, S. 17ff. Zur Parisreise vgl. Niebuhr 1990, S. 42ff.

[7] Kiewning 1930, S. 153.

[8] NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 13-20.

[9] Lippische Intelligenzblätter, Stück 45 aus 1803, S. 353-356 und NWStADetmold L 77 A Nr. 5843, Bl. 1-5.

[10] Gutachten vom 28.2.1804 in: NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 26-55.

[11] NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 26.

[12] NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 1-4 et passim. Mit zahlreichen Bauplänen und Kostenvoranschlägen.

[13] Auch der Horner Drostenhof und der dortige Kotzenbergische Hof wurden kurzzeitig in Erwägung gezogen. NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 57ff.

[14] Suevern, Wilhelm, Brake. Geschichte des Schlosses und der Gemeinde Brake in Lippe. Lemgo 1960, S. 140f. Die gerösteten Wurzeln der Zichorie (Wegwarte) dienten zu jener Zeit als Kaffeeersatz.

[15] Eigenhändige Überlegungen der Fürstin vom 20.11.1804. NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 101.

[16] Meyer 1901, S. 40. Kiewning 1930, S. 40, dort auch Hinweis auf den Aufsatz: Praktische Anstalten auf der Universität Jena, in: „Intelligenzblatt der Jenaischen allgemeinen Literaturzeitung, Jg. 1805, Nr. 37. NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 210 und Bl. 218-225.

[17] NWStADetmold L 77 A Nr. 5747 Bl. 225v.

[18] NWStADetmold L 107 D Patientenakte Potharst (Nr. 4173).

[19] Zitiert nach Alter 1911, S. 2.

[20] Kiewning 1930, S. 155f .

[21] Zitiert nach Kiewning 1930, S. 155.

[22] NWStADetmold L 77 A Nr. 5746, Bl. 128 sowie Danksagung der Fürstin an ihre Untertanen vom 5.6.1804 in: Lipp. Intelligenzblätter Stück 23 aus 1804, S. 177f.

[23] Es wurden im Dezember 1805 100 Aktien im Wert von je 50 Rt und verzinst zu 3% ausgegeben. Pro Jahr sollten zwei Aktien mit je nach Laufzeitdauer gestaffeltem Zusatzbonus zurückgekauft werden. Das jeweilige Rückkaufjahr wurde bereits bei Ausgabe im Dezember 1805 ausgelost. Vgl. NWStADetmold L 77 A Nr. 5744. Im Jahre 1821 konnten sämtliche Aktien von den Besitzern aus dem Anstaltsfond zurückgekauft werden. Manche Käufer hatten ihre Aktien in den Jahren zuvor auch der Anstalt geschenkt. Ebda. Bl. 59.

[24] Die französische Regierung des Großherzogtums Berg hatte der Samtstadt Lippstadt neue Steuern auferlegt und die Hälfte der Einkünfte Lippe zur Verfügung gestellt. Ein Teil dieser Einkünfte floss in den Etat der Anstalt. Vgl. dazu Kiewning 1930, S. 157.

[25] NWStADetmold L 77 A Nr. 5765, Bl. 42.

[26] Roller 1891, S. 14. Alter 1911, S. 2.

[27] NWStADetmold L 77 A Nr. 5747 sowie NWStADetmold L 107 D Fach 1 Nr. 1.

[28] NWStADetmold L 107 D Fach 3 Nr. 5, Bl. 1. NWStADetmold L 107 D Patientenakte Hardemann (Nr. 1857 u. 1857a)

[29] NWStADetmold L 107 D Fach 1 Nr. 3, Bl. 1.

[30] Zit. nach Roller 1891, S. 16f.

[31] NWStADetmold L 77 A Nr. 5762, Bl. 3f.

[32] NWStADetmold L 77 A Nr. 5762.

[33] NWStADetmold L 77 A Nr. 5762, Bl. 56v.

[34] Meyer 1869, S. 2.

[35] Meyer 1869, S. 1. Zu Focke vgl. Bender, Wolfgang: Die Hand am Puls der Zeit. Lippische Alltagsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Spiegel amtsärztlicher Berichte, Detmold 2000, S. 279. Zu Fockes Gehalt NWStADetmold L 107 D Fach 5a Nr. 3, Bl. 3f.

[36] NWStADetmold L 77 A Nr. 5842, Bl. 22. Sein Gehalt wurde ebenfalls 1821 um 22 Rt erhöht. Ebda, Bl. 45

[37] NWStADetmold L 77 A Nr. 5762, Bl. 50 et passim. NWStADetmold L 77 A Nr. 5843, Bl. 1ff.

[38] NWStADetmold L 107 D Fach 5a Nr. 3, Bl. 1. Zu den Bewerbungen vgl. z.B. NWStADetmold L 77 A Nr. 5838 und NWStADetmold L 77 A Nr. 5785. Unter den Spanienheimkehrern wurde Grupe nicht fündig, “… weil dieselben zur Arbeit unfähig, also zu jenem Posten untauglich sind.“ Bericht vom 6.4.1811 an die Regierung. NWStADetmold L 77 A Nr. 5838, Bl. 41.

[39] NWStADetmold L 107 D Fach 5a Nr. 2. NWStADetmold L 77 A Nr. 5838, Bl. 60 und Nr. 584, Bl. 32.

[40] Alter 1911, S. 2f. Roller 1891, S. 19. Siehe z.B. auch: NWStADetmold L 77 A Nr. 5753, Bl. 85v. u. Bl. 91. NWStADetmold L 77 A Nr. 5747, Bl. 47-48. NWStADetmold L 77 A Nr. 5786, Bl. 49v. und Bl. 74v. NWStADetmold L 107 D Fach 5a Nr. 2, Punkt 14 der Instruktion für die Wärterin der Tobsüchtigen.

[41] Kiewning 1930, S. 157.

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